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Die vergessene Beteiligung

Tobias Lüder

Mittwoch, 16.11.2022

I. Expertenbeteiligung beim Vollzug des GlüStV 2021

Es ist eine altbekannte Forderung, dass sich die Akteure der Glücksspielregulierung mehr an wissenschaftlicher oder auch praktischer Expertise orientieren sollen. Dabei zielt die Forderung nicht nur auf die Länder als Staatsvertragsgeber, die zumindest im Rahmen eines wohl einzigartigen Anhörungsverfahrens zum GlüStV 2021 ca. 150 Verbände zu einer Stellungnahme eingeladen hatten, sondern auch auf die Vollzugsbehörden. Sucht man im GlüStV 2021 nach Anhaltspunkten für eine Expertenbeteiligung im Tätigkeitsbereich der Glücksspielvollzugsbehörden fällt der Blick zuvörderst auf den Fachbeirat Glücksspiel. Der Fachbeirat setzt sich nach § 10 Abs. 1 S. 3 GlüStV 2021 aus Personen zusammen, die im Hinblick auf die Ziele des § 1 GlüStV 2021 über besondere wissenschaftliche oder praktische Erfahrungen verfügen sollen. Da er unabhängig ist, unterliegt er keinen ministeriellen Weisungen. Zusammensetzung, Aufgabenbereich und die Organisation des Fachbeirats werden in den §§ 7 ff. der Verwaltungsvereinbarung Glücksspielstaatsvertrag 2021 (VwVGlüStV 2021) konkretisiert (die aktuelle Zusammensetzung und einen Jahresbericht finden Sie hier). Die Zusammensetzung des Fachbeirats wurde in der Vergangenheit zum Teil heftig kritisiert (so Uwer, in: FS für Kloepfer, 868, 880; hiergegen aber die Stellungnahme des Fachbeiratsmitglieds Wulf, ZfWG 2021, 425, 429). Nicht anzweifeln lässt sich allerdings, dass die aktuellen Mitglieder entweder über eine wissenschaftliche oder aber eine praktische Erfahrung im Bereich der Suchtforschung oder -hilfe verfügen. Fraglich bleibt allein, ob dadurch alle Ziele des § 1 GlüStV 2021 abgedeckt werden.

 

II. Aufgaben des Fachbeirats

Nach § 10 Abs. 1 GlüStV 2021 berät der Fachbeirat die Länder bei der ordnungsrechtlichen Aufgabe der Sicherstellung eines ausreichenden Glücksspielangebotes. Zudem soll der Fachbeirat nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 VwVGlüStV 2021 bei der Evaluierung des Glücksspielstaatsvertrages mitwirken. Aber auch an der Erlaubniserteilung soll der Fachbeirat beteiligt werden: Eine Erlaubnis zur Einführung neuer Glücksspielangebote durch die in § 10 Abs. 2 und 3 genannten Veranstalter setzt nach § 9 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 GlüStV 2021 voraus, dass der Fachbeirat zuvor die Auswirkungen des neuen Angebotes auf die Bevölkerung unter Berücksichtigung der Ziele des § 1 GlüStV 2021 untersucht und bewertet hat. Führt also ein staatlicher Anbieter ein neues Glücksspielangebot ein, muss vor der Erlaubniserteilung der Fachbeirat beteiligt werden. Zwar sind die Empfehlungen des Fachbeirats für die zuständige Erlaubnisbehörde nicht bindend, fehlt es jedoch gänzlich an einer Beteiligung, wurde die Erlaubnis formell rechtswidrig erteilt. Eine Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 9 Abs. 5 GlüStV 2021 kann auch nicht nach § 45 Abs. 1 VwVfG NRW (in Bezug auf die hier entscheidenden Formulierungen sind alle landesrechtlichen Verwaltungsverfahrensgesetze identisch) geheilt werden, da keiner der in Nr. 1-5 aufgezählten Heilungstatbestände einschlägig ist. Der Fachbeirat ist weder ein Beteiligter nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW, noch handelt es sich um eine Behörde im Sinne des § 45 Abs. 1 Nr. 5 VwVfG NRW. Zumindest nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (vgl. BverwGE 66, 291, 295) wäre ein Rückgriff auf die Heilungsvorschrift des § 45 Abs. 1 VwVfG NRW aber ohnehin gesperrt, da der Sinn der Beteiligung des Fachbeirats nur dann erfüllt werden kann, wenn der Beirat vor Entscheidung der Glücksspielaufsicht angehört wird. Schließlich soll die Aufsichtsbehörde gerade den besonderen Sachverstand des Fachbeirats in seine Entscheidung zur Erlaubniserteilung mit einbeziehen (so auch VG Wiesbaden ZfWG 2011, 143, 145 unter Berufung auf BVerfGE 127, 293, 304). Bei unterlassener Beteiligung liegt demzufolge ein unheilbarer – zur formellen Rechtswidrigkeit führender – Verfahrensfehler vor. Soweit so klar!

 

1. Unklarheiten bei § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021

Wesentlich problematischer erscheint jedoch die Formulierung des § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021: „Neuen Glücksspielangeboten steht die Einführung neuer oder die erhebliche Erweiterung bestehender Vertriebswege durch Veranstalter oder Vermittler gleich.“ Unklar bleibt, ob sich diese Norm auch ausschließlich auf die staatlichen Anbieter im Sinne des § 10 Abs. 2 und 3 GlüStV 2021 bezieht oder ob sie auch private Veranstalter und Vermittler mitumfasst. Wortlaut und Systematik lassen beide Auslegungsergebnisse zu: Zum einen ließe sich vertreten, dass sich S. 2 ausdrücklich auch auf den Teil des S. 1 bezieht, bei dem die staatlichen Veranstalter im Sinne des § 10 Abs. 2 und 3 GlüStV 2021 explizit genannt werden. Ebenso gut könnte man jedoch anführen, dass S. 2 selbst Veranstalter und Vermittler nennt und eben nicht die Eingrenzung vornimmt, dass es sich um solche des § 10 Abs. 2 und 3 GlüStV 2021 handelt. Für letztere Auslegung spricht zumindest der Umstand, dass § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 auch Vermittler nennt. Ein Bezug auf die staatlichen Veranstalter – wie es erstere Auslegung anstrebt – würde dann zu folgender merkwürdigen Formulierung führen: „Die Erlaubnis zur Einführung neuer oder die erhebliche Erweiterung bestehender Vertriebswege durch Veranstalter oder Vermittler durch die in § 10 Abs. 2 und 3 GlüStV 2021 genannten Veranstalter setzt voraus…“. Frei von Zweifeln bleibt eine solche Argumentation nicht. Schließlich könnte man auch davon ausgehen, dass sich S. 2 nur auf den Verweis auf § 10 Abs. 2 und 3 GlüStV 2021 bezieht und den Begriff des Veranstalters durch die Begriffe Veranstalter und Vermittler ersetzt.

 

a. Rückgriff auf die Erläuterungen

Bestehen Unklarheiten bei der Auslegung von Wortlaut und Systematik, kann ein Blick in die Gesetzes- bzw. Staatsvertragsmaterialien helfen. In den Erläuterungen zum GlüStV 2021 lässt sich zu dieser Vorschrift allerdings nichts finden. Zu beachten ist jedoch, dass § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 wortlautgleich aus dem GlüStV 2012 übernommen wurde. Ein Rückgriff auf die Erläuterungen zum GlüStV 2012 scheint also angebracht. Tatsächlich findet sich hier eine recht klare Antwort auf die Frage. So heißt es in den Erläuterungen zu § 9 Abs. 5 GlüStV 2012: „Aufgrund der Gleichrangigkeit der Zielsetzungen des § 1 muss der Untersuchungsauftrag des unabhängigen Fachbeirats ganzheitlich ausgerichtet sein. Der Fachbeirat begutachtet wie bisher neue Angebote staatlicher Veranstalter und neue Vertriebswege aller Veranstalter.“, siehe BayLT-Drs. 16/11995, S. 27. Die Erläuterungen des GlüStV 2012 legen also nahe, dass sich § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 nicht nur auf die staatlichen, sondern auch auf die privaten Anbieter bezieht. Dass die Staatsvertragsgeber dies haben ändern wollen, ist nicht erkennbar, hätten sie dann doch entweder die Norm oder aber zumindest die Erläuterungen zum GlüStV 2021 angepasst. So aber sprechen die besseren Argumente dafür, dass sich § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 auch auf private Anbieter bezieht. Dagegen ließe sich einwenden, dass § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2012 seinerseits ebenfalls wortlautgleich vom GlüStV 2008 übernommen wurde und in den Erläuterungen vom GlüStV 2008 mehrfach ein Zusammenhang zwischen staatlichem Anbieter und den Bewertungen des Fachbeirats hergestellt wird (BW LT-Drs 14/1930, S. 29). Eine solche Argumentation widerspricht aber nicht nur dem Umstand, dass bei sich einander widersprechenden Erläuterungen auf die zeitlich nähere zurückgegriffen werden sollte (Gedanke des lex-posterior-Grundsatzes), sondern übersieht auch, dass sich die Problematik beim GlüStV 2008 noch nicht stellte, da private Glücksspielangebote – bis auf einzelne Ausnahmen – überhaupt nicht erlaubnisfähig waren. Auch nicht einwenden lässt sich, dass sich die Zusammensetzung und der Grundauftrag des Fachbeirats aus § 10 Abs. 1 S. 2 und 3 GlüStV 2021 ergibt und in dieser Vorschrift ein eindeutiger Bezug zu den staatlichen Glücksspielanbietern hergestellt wird. § 10 Abs. 1 bezieht sich nämlich gar nicht auf die staatlichen Anbieter. Er schreibt lediglich vor, dass die Länder zur Erreichung der Ziele des § 1 GlüStV die Aufgabe haben, ein ausreichendes Glücksspielangebot sicherzustellen. Darüber, ob sie das Ziel selbst als Veranstalter sicherstellen oder sie hierzu lediglich private Anbieter überwachen, sagt § 10 Abs. 1 GlüStV 2021 selbst nichts aus.

 

b. Begriff des Vertriebswegs

 

Im Ergebnis muss die zuständige Erlaubnisbehörde also nach § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 vor der Erteilung einer Erlaubnis für die Einführung neuer oder die erhebliche Erweiterung bestehender Vertriebswege durch Veranstalter oder Vermittler den Fachbeirat beteiligen und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen staatlichen oder aber einen privaten Anbieter handelt. Im Anschluss stellt sich die Frage, was überhaupt unter neuen Vertriebswegen bzw. der erheblichen Erweiterung bestehender Vertriebswege zu verstehen ist.

 Das VG Wiesbaden (ZfWG 2011, 143, 145) entschied in einem Urteil von 2011 folgendes: Vertriebsweg im Sinne des § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 meint „nicht nur den Übermittlungsweg, auf dem der Spielschein zum Veranstalter gelangt, vielmehr wird von dem Begriff auch die gesamte Abwicklung der Beziehung zwischen Spieler und Veranstalter erfasst. Entsprechend beinhaltet der Vertriebsweg auch die Teilnahmemöglichkeiten, die dem Spieler geboten werden.“ Von einem neuen bzw. erheblich erweiterten Vertriebsweg ist also insbesondere dann auszugehen, wenn die Spielteilnahme räumlich oder zeitlich erleichtert wird.

Ein solches Verständnis setzt Vorgaben für die Erlaubniserteilungen nach dem GlüStV 2021: Offenkundig stellt ein neu geschaffenes Online-Angebot einen neuen Vertriebsweg bzw., wenn schon ein stationärer Betrieb stattgefunden hat, eine erhebliche Erweiterung des Vertriebsweges dar. Nach hiesigem Verständnis muss die zuständige Glücksspielaufsichtsbehörde den Fachbeirat also auch bei der – erstmals durch den GlüStV 2021 möglich gewordenen – Erteilung einer Erlaubnis für das Angebot von virtuellen Automatenspielen, Online-Poker und Online-Casinos beteiligen (so im Ergebnis auch Peters, in: Dietlein/Ruttig, Glücksspielrecht, § 9 Rn. 66).

 

2. Ergebnis: Formelle Rechtswidrigkeit der Erlaubnisse für virtuelles Automatenspiel

 

Die ersten Erlaubnisse für virtuelle Automatenspiele wurden mittlerweile erteilt (siehe Whitelist). Eine Beteiligung des Fachbeirats hat – nach durch die Erlaubnisbehörden bestätigten Informationen – allerdings nicht stattgefunden. Man muss daher davon ausgehen, dass die bisherigen Erlaubnisse formell rechtswidrig erteilt wurden.

 Anfang November dieses Jahres hat die Sächsische Spielbanken GmbH & Co. KG eine Erlaubnis zur Veranstaltung von virtuellen Automatenspielen erhalten. Gesellschafter der Sächsischen Spielbanken GmbH & Co KG sind der Freistaat Sachsen als alleiniger Kommanditist und die Sächsische Spielbankenbeteiligungs-GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin, deren Anteile wiederum vom Freistaat Sachsen gehalten werden. Es handelt sich hierbei also um eine privatrechtliche Gesellschaft, an der das Land Sachsen unmittelbar und (auch) mittelbar maßgeblich beteiligt ist und somit unzweifelhaft um einen Anbieter im Sinne des § 10 Abs. 2 Var. 3 GlüStV 2021. Selbst wenn man – entgegen der hier vertretenen Ansicht – davon ausgeht, dass sich § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 nicht auf private Anbieter bezieht, hätte der Fachbeirat zumindest in diesem Fall beteiligt werden müssen.

 

III. Folgen der unterlassenen Beteiligung des Fachbeirats

 

Die formell rechtswidrig erteilten Erlaubnisse genießen zunächst Bestandskraft. Zwar handelt es sich bei einer erteilten Erlaubnis für das Angebot von virtuellen Automatenspielen, Online-Poker und Online-Casinos um einen Verwaltungsakt, eine Anfechtungsklage des Fachverbands gegen die Erlaubnis scheidet dennoch aus. Der Fachverband kann nämlich nicht – wie es die Struktur der Anfechtungsklage nach § 113 Abs. 1 VwGO aber verlangt – geltend machen, durch den Inhalt und Regelungsgehalt des Verwaltungsakts in seinen Rechten verletzt zu sein (umfassend hierzu Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S. 865 ff.). Auch eine Drittanfechtungsklage, etwa durch einen Bewerber, der keine Erlaubnis bekommen hat, scheidet mangels drittschützenden Charakters des § 9 Abs. 5 S. 2 GlüStV 2021 aus. Es bleibt einzig und allein die Möglichkeit, dass der Fachbeirat die Rechtswidrigkeit der unterbliebenen Beteiligung im Wege der Feststellungsklage gerichtlich feststellen lässt (vgl. schon VG Wiesbaden, ZfWG 2010, 377, 378; ausführlich zu den Klagemöglichkeiten Manthey/Rubin, ZfWG 2010, 324, 328). Freilich blieben die bisherigen Erlaubnisse hiervon unberührt. Für die Außendarstellung der ohnehin schon häufig kritisierten Glücksspielaufsichtsbehörden (inklusive der bisher noch nicht an der Erlaubniserteilung beteiligten Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder) wäre eine solche Feststellung allerdings misslich.